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Patientenorientierung – Ein gutes Vorbild

Zwischen Weihnachten und Neujahr zeigte das öffentliche Fernsehen ARD die Verfilmung des Romans Der Medicus. Obwohl im Genre als Abenteuerfilm ausgewiesen, war dieser gleichermaßen auch ein Dokumentarfilm, erzählte er doch eingebettet in spannende Handlung die Geschichte der Entstehung der Heilkunst, die nicht auf Zauberei gründet, sondern erstmals auf anatomischen Erkenntnissen beruht.

Ein gutes Vorbild

Der große persische Arzt und Wissenschaftler, Avicenna, der im Mittelalter die Entwicklung der heutigen modernen Medizin maßgeblich prägte, hat als erster systematisch Medizinstudenten ausgebildet und dabei nicht nur das Handwerk des Heilens vermittelt sondern das Fundament einer respektgetragenen, empathischen Patientenbetreuung gelegt. Er lehrte seine Studenten, dass der Medicus sich nicht der Heilung der Krankheit, vielmehr der Heilung des Patienten widmen muss. Zum respektvollen Umgang durch den Meister angeleitet und mit bescheidenen Mitteln ausgestattet, baten diese ihre Patienten um Erlaubnis, wenn sie sie behandeln wollten. Die Frage drängt sich auf: erfahren Patienten heute den gleichen Respekt vom medizinischen Personal, wenn sie sich ihnen anvertrauen?

Entwicklung mit Folgen

Ab dem 19. Jahrhundert verbesserten sich die diagnostischen Möglichkeiten rasant. Aus Heilern wurden Wissenschaftler. Ihre „Heilkunst“ wurde durch die Apparatemedizin noch weiter gesteigert. Die Arzt-Patienten-Beziehung wurde maßgeblich durch das Bild der „Götter in Weiß“ geprägt. Die menschliche Qualität des Behandlungsprozesses trat hinter den wachsenden medizinischen Möglichkeiten zunehmend in den Hintergrund und der Qualitätsbegriff erfuhr eine neue Definition.

Stand der Wissenschaft

Weltweit sind sich Experten einig, dass die Qualität der Gesundheitsversorgung hochwertig sein muss, stetig verbessert werden muss und zu den „erwünschten Ergebnissen“ führen soll. Was mit „erwünschten Ergebnissen“ gemeint ist, was Qualität beinhaltet, und vor allem, woran sie gemessen wird, darüber sind sich die Akteure hierzulande jedoch nicht einig. So verwundert es nicht, dass die Patientenstimme längst nicht in allen Qualitätsdefinitionen vorkommt und immer noch bestenfalls als Marketingeffekt Berücksichtigung findet.
In der OECD Qualitätsdefinition, in der der Patient bereits explizit erwähnt wird, wird der Qualitätsbegriff im Hinblick auf die Faktoren konkretisiert, die für die Leistungsfähigkeit eines Gesundheitssystems ausschlaggebend sind. Diese werden in den Kerndimensionen Effektivität, Sicherheit und Patientenzentrierung zusammengefasst.
Nun stellt die Forderung nach Patientenzentrierung nicht automatisch sicher, dass die Bedürfnisse, Wünsche und Erfahrungen, die Patienten mit der Betreuung und Versorgung machen, in die Qualitätsmessung einfließen. Warum aber sollte sich die Patientenerfahrung als Säule der Versorgungsqualität unbedingt in der Qualitätsdefinition niederschlagen?

Was können wir von Patienten lernen?

Zu allererst ist gute Patientenerfahrung ein Wert in sich. Das Recht auf eine menschliche, zugewandte, empathische Betreuung ist ein fundamentales Recht, das keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Es stellt die ethisch-moralische Dimension der so oft zitierten Patientenorientierung dar.

Wen diese ethisch-moralische Begründung zur Integration der Patientenperspektive als Säule der Versorgungsqualität nicht überzeugt, wird an dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand dennoch nicht vorbeikommen. Der Zusammenhang zwischen einer guten Patientenerfahrung und klinischen Outcomes, Behandlungsnutzen und Patientensicherheit ist inzwischen vielfach belegt. Damit haben gemessene Patientenerfahrungen auch eine ökonomische Nützlichkeitsdimension.

Doyle und Kollegen (2013) haben diesen Erkenntnisstand in einer Übersicht sehr gut zusammengefasst. In dieser Arbeit sind die Ergebnisse aus 55 Studien zum positiven Zusammenhang von Patientenerfahrung, klinischer Wirksamkeit und Sicherheit zusammengetragen. Die Ergebnisse zeigen eindeutige Parallelen zwischen subjektiven Erfahrungsberichten zur Versorgung und objektiven Outcomes wie Mortalität, Infektionen, medizinischen Fehlern sowie der Adhärenz der Patienten oder der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Um diese positiven Wechselwirkungen nutzen zu können, ist die Perspektive der Patienten zwingend in die Evaluation von Versorgungsqualität zu integrieren und zwar weit über die geplante Einbindung der so genannten patientenrelevanten Outcomes (patient reported outcomes, PRO) hinaus. Während letztere auf Lebensqualität und subjektiv erlebten Gesundheitszustand fokussieren und nur selektive Patientenpopulationen erfassen, liefern Patientenerfahrungen wichtige Informationen über die für eine gute Versorgungsqualität zentralen Themen Kommunikation und Interaktion.

Fazit

Trotz der unaufhaltsamen Ökonomisierung des deutschen Gesundheitssystems wäre es falsch, Kliniken und Ärzten generell zu unterstellen, sie seien ausschließlich am finanziellen Gewinn interessiert und hätten nicht die bestmögliche medizinische Behandlung und Heilung im Blick. Das traditionelle Berufsverständnis der Ärzte fokussiert jedoch die Krankheit und nicht den Patienten. In einer solchen Betrachtungsweise bedeutet die Heilung der Krankheit bereits Erfolg, somit also eine Patientenorientierung. Doch, einen authentischen Aufschluss über das Ausmaß von Patientenorientierung kann uns nur der Patient selbst geben. Systematisch und standardisiert über die Einbindung der Patientenerfahrung in die Qualitätsmessung. Andere Länder sind uns weit voraus; im britischen NHS Outcomes Framework 2014/15, in dem festgelegt ist, anhand welcher Dimensionen Qualität in der Gesundheitsversorgung zu messen ist, findet sich neben der Effektivität und der Sicherheit der Behandlung die Patientenerfahrung als explizites den anderen gleichwertiges Kriterium. Nur eine Gesundheitsversorgung, die neben der Wirksamkeit und der Vermeidung von Schäden für den Patienten auch eine positive Patientenerfahrung sicherstellt („Ensuring people have a positive experience of care“), wird als gute Versorgungsqualität akzeptiert.

Davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Das Vorhaben des G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss), Qualität als Steuerungskriterium der Gesundheitsversorgung zu verankern, bietet aber die große Chance, den Patienten tatsächlich in den Mittelpunkt des Gesundheitssystems zu stellen und seiner Erfahrung eine Stimme zu verleihen. Wer es mit der Ausrichtung der Gesundheitsversorgung auf den Patienten wirklich ernst meint, für den ist die Integration der Patientenperspektive in die Qualitätsmessung Pflicht.

Ohne sich deshalb zurück ins Mittelalter wünschen zu wollen, könnte uns dabei Avicenna ein gutes Vorbild sein.

[Beitragsbild von Fotolioa mit Rechteübertragung von Picker Institut Deutschland gGmbH]