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Wie gesund ist das Gesundheitssystem?

Über die positiven und negativen Auswirkungen der seit 1993 eingeführten Reformen im deutschen Gesundheitssystem diskutierten Mitglieder und Gäste des Sozialen Zirkels beim diesjährigen „Kamingespräch“ am 7.Dezember in den Räumen des Hotels „Lindenhof“ in Bielefeld-Bethel. Dabei konnte der Vorsitzende Wolfgang Stender auch eine Reihe von Fachleuten aus dem medizinischen Sektor begrüßen.

Wolfgang Riewe, der bis 2013 Chefredakteur der evangelischen Zeitung „Unsere Kirche“ war, stellte als Gesprächsimpuls die seit Jahren andauernde Debatte um die einschneidenden Veränderungen im deutschen Gesundheitssystem dar und sprach sich dafür aus, Wettbewerb, Konkurrenz und Kostendruck nicht zu übermächtig werden zu lassen und erkannte Fehlsteuerungen zu korrigieren. „Krankenhäuser müssen ökonomisch arbeiten, sie dürfen aber keine reinen Profitcenter werden, sondern Einrichtungen der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge bleiben“, sagte er.

[Das Manuskript von Herrn Riewes Impulsreferat stellen wir auf Anfrage gern zur Verfügung.]

Deutschland zähle bei der Versorgung der Kranken nach wie vor zur Weltspitze, betonte der Referent. High-Tech-Medizin auf höchstem technischen Niveau ermögliche Behandlungen, die noch vor Jahren undenkbar gewesen seien. Über 300 Milliarden Euro oder 11, 3 Prozent der Wirtschafsleistung flössen jährlich in das Gesundheitssystem. Das sei an sich noch nicht falsch. Die Qualität der Versorgung halte aber keinesfalls immer Schritt mit den Kosten.

Laut einer Studie der OECD liege Deutschland bei der Qualität der Versorgung nur im unteren Mittelfeld. Und die seit Einführung des regulierten Wettbewerbs zu beobachtende starke Ökonomisierung und Ertragsorientierung des Systems stoße auf eine wachsende Skepsis der Bevölkerung.

Riewe stellte die Hauptgründe der Kostensteigerungen vor: Steigende Lebenserwartung, die Dynamik des technischen Fortschritts, zunehmende Vielfalt gesundheitsbezogener Produkte, der Mangel an gesundheitsgerechtem Verhalten und die Zunahme von Erkrankungen wie Allergien oder Depressionen. Die verschiedenen Maßnahmen zur Kostendämpfung, bei denen u.a. Gesundheitsleistungen gekürzt und die Eigenbeteiligung erhöht wurden, seien nicht in allen Fällen zielführend gewesen.

So habe die 1992 eingeführte Reform des Vergütungssystems der Krankenhäuser nicht zu der beabsichtigten Ausgabenbegrenzung geführt, sondern zu einem massiven Anstieg der Operationen und Behandlungen. Ärztinnen und Ärzte befänden sich in einem wachsenden Spannungsverhältnis zwischen medizinischen und ökonomischen Kriterien. Die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal, das zu schlecht bezahlt werde, hätten sich in vielen Kliniken massiv verschlechtert. „Die betriebswirtschaftliche Perspektive ist vorherrschend geworden“, sagte Riewe, „das ist eine problematische Entwicklung, weil sie auf Dauer das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient untergräbt.“

In der Diskussion des Vortrags stellte einer der Teilnehmer die Frage, ob die hohen Ausgaben im deutschen Gesundheitswesen nur unter dem Aspekt der immensen Kosten gesehen werden müssten. Es könne schließlich auch positiv gesehen werden, dass fast zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung Deutschlands im Gesundheitssektor erwirtschaftet würde. Umgekehrt gesehen müsse man feststellen, dass auch fast 12 Prozent des Einkommens in diesem Sektor verdient werde mit hunderttausenden von Arbeitsplätzen. Diesem Gesichtspunkt konnten die anderen Teilnehmer zustimmen.

Zu den vom Referenten vorgetragenen Gründen, die zu erheblichen Kostensteigerungen führen, wurde noch ein weiterer Punkt ergänzt: Nach der Wiedervereinigung mussten 1990 mehr als 19 Millionen Menschen in das westdeutsche Gesundheitssystem aufgenommen werden, die nie Beiträge eingezahlt hatten. Auch dies war für die Politik Anlass, über Reformen im Sinne von Ausgabenbegrenzungen nachzudenken.

Die heute stärkere Gewinn-und Ertragsorientierung der Krankenhäuser wurde von einem Teilnehmer in ein positiveres Licht gerückt. Da der Staat nicht mehr wie früher für notwendige Investitionen aufkomme, müssten diese von den Kliniken selbst erbracht werden. Dies aber gehe nur, wenn sie auch Gewinne machten. Wenn Krankenhäuser keine Gewinne machen würden, könnten sie auch nicht investieren.

Zustimmung fand die die Ansicht des Referenten, dass die Einrichtungen des Gesundheitswesens bei allem notwendigen Bemühen um Wirtschaftlichkeit und ökonomische Stabilität die Menschlichkeit nicht aus den Augen verlieren dürfen. Dem Gespräch zwischen Arzt, Pflegepersonal, Seelsorgern und Patienten komme hohe Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang wurde auch die wichtige Rolle von Ehrenamtlichen wie den „gründen Damen“ u.a. Gruppen betont, die viel zur seelischen und körperlichen Stabilisierung der Patienten oder Heimbewohner beitragen können.

Notwendig sei auch, das Pflegepersonal durch technische Hilfsmittel von allzu viel Bürokratie (Dokumentation) zu entlasten, damit sie ebenfalls mehr Zeit für Gespräche mit Patienten haben. Pflegerinnen und Pfleger müssten aber auch besser bezahlt werden und mehr Anerkennung und Wertschätzung der geleisteten Arbeit erfahren. Sonst sei der Nachwuchs auf Dauer nicht zu gewährleisten.

Bei allen Maßnahmen zur Erhaltung des Gesundheitssystems dürfe der Patient nicht aus der Verantwortung genommen werden, betonte einer der Teilnehmer. Seiner Meinung nach klagen Patienten in Deutschland häufig „auf sehr hohem Niveau“. So sei es richtig gewesen, bestimmte Wellness-Behandlungen und Bagatell-Arzneimittel aus dem Leistungskatalog zu nehmen. Es müsse eine Balance gefunden werden zwischen der Erwartungshaltung der Bevölkerung und dem, was ein solidarisches Gesundheitssystem leisten könne. Wichtig sei auch, in manchen Teilen der Bevölkerung auf ein gesundheitsbewussteres Verhalten hinzuwirken.

Zu den nach der Reform des Vergütungssystems erhöhten Operationszahlen äußerte ein im Krankenhaussektor tätiger Manager eine andere Meinung. Es handele sich nur um statistisch erhöhte Fallzahlen, weil sich die Operationen im neuen Vergütungssystem anders verteilen. Hätte man z.B. bei Operationen der Krampfadern früher gleich beide Beine operiert, würde man heute zwei Operationen in zeitlichem Abstand nacheinander durchführen. In der Statistik würden also zwei statt einer Operation erscheinen. Natürlich sei dies auch mit erhöhten Kosten verbunden, gestand der Gesprächsteilnehmer zu.

Mehrere Teilnehmer stimmten der These des Referenten zu, dass in Deutschland zu viele Medikamente verordnet werden. Man könne teilweise mit wesentlich weniger Medikamenten auskommen. Ein Problem sei, dass Hausärzte sich oft nicht trauen, von Krankenhausärzten verordnete Medikamente nach einer Zeit wieder abzusetzen oder zu verändern. So komme es zu dem Problem, dass durch gleichzeitige Einnahme mehrerer Medikamente im Körper des Patienten chemische Reaktionen durch Wechselwirkung der Medikamente und Nebenwirkungen entstehen könnten, die Organe schädigen.

Die Einführung einer elektronischen Patientenakte und die telemedizinische Datenübertragung könne hier eine Hilfe sein. Heftig kritisiert wurde, dass in Deutschland Datenschutzkommissionen solche Möglichkeiten zum Wohl der Patienten oft verhindern. Die Gründe hierfür seien nicht nachvollziehbar.