Experten zu Gast bei einem Forum des „Sozialen Zirkels“ in Bielefeld: Die Qualität der medizinischen Versorgung in Deutschland ist stark gefährdet
Deutschland hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Dennoch ist die Qualität der medizinischen Versorgung aus unterschiedlichen Gründen stark gefährdet. Das machte unsere Vortragsveranstaltung im Mercure-Hotel auf dem Bielefelder Johannisberg deutlich.
Vorsitzender Wolfgang Stender konnte dazu zahlreiche Gäste und als Referenten zwei im Gesundheitswesen als Fachleute hoch qualifizierte Redner begrüßen:
- Den Leipziger Universitätsprofessor Wilfried von Eiff, der die Situation der stationären und ambulanten medizinischen Versorgung beleuchtete, und
- Ingolf Rascher von der ALL Akademie Bochum.Er zeigte die Chancen der Digitalisierung im Pflegebereich auf und stellte Überlegungen zur Lösung des Pflegenotstands zur Diskussion.
Gerhard Hallenberger, als Mitglied des „Sozialen Zirkels“ Moderator des Forums, listete gleich zu Anfang eine Reihe von Gründen auf, die das Gesundheitssystem Deutschlands derzeit besonders belasten:
- Neben dem hohen Anteil älterer Menschen und der Multimorbidität im Alter sind dies vor allem
- die wachsenden Anforderungen an das System durch Zuwanderung,
- die steigende Zahl behinderter Kinder und Jugendlicher,
- der Fachkräftemangel,
- die mangelhafte Digitalisierung,
- Lieferengpässe bei Medizinprodukten und
- zu geringe Krankenhaus-Investitionen der Länder.
Die Orientierung am jeweils billigsten Anbieter und der ständige Kostendruck belasten die Beteiligten im Gesundheitssystem besonders. Dies stellte auch Prof. Dr. Wilfried von Eiff in seinem Vortrag heraus: „Die Priorität der Ökonomie und des Kostenmanagements ist ein großes Problem“, sagte er. In scharfer Form wandte er sich gegen eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die 2020 vorsah, eine große Zahl von Krankenhäusern zu schließen. „Die Corona-Epidemie hat gezeigt, dass dies auf keinen Fall möglich ist“, sagte er. Im Gegenteil müssten die Länder mehr in die Krankenhäuser investieren und helfen, die Abwanderung junger Menschen aus dem Gesundheitswesen zu stoppen. Zu Recht forderten jüngere Ärztinnen und Ärzte und das Pflegepersonal eine familienfreundlichere Arbeitswelt.
Professor von Eiff sprach sich für integrierte Versorgungsnetzwerke und überörtliche medizinische Zentren im ländlichen Bereich aus, ein digitales Aufnahme-und Entlassmanagement und eine leistungsübergreifende elektronische Patientenakte. Außerdem müsse in Zukunft auch im Gesundheitssektor Nachhaltigkeit eine größere Rolle spielen. Momentan erzeuge der Gesundheitssektor mehr Treibhausgase als Schiffs-und Flugverkehr zusammen. Fairer Handel, Recycling von Medizinprodukten und ortsnahe Dienstleistungen, für Wäsche etwa, sollten seiner Meinung nach künftig wieder Standard werden. „Wir müssen weg von der reinen Preisorientierung hin zu einer neuen Werteorientierung“, sagte er.
Zu dieser Werteorientierung gehört nach Meinung von Ingolf Rascher von der AAL Akademie Bochum künftig auch eine noch größere Wertschätzung des Pflegepersonals. Rascher machte die Dramatik der Situation deutlich: Demnach steigt der Bedarf an Pflegekräften bis zum Jahr 2035 auf 493.603. Derzeit fehlen aber im stationären und ambulanten Bereich bundesweit bereits 18.200 Pflegekräfte. Sieben von zehn Stellen können in NRW nicht besetzt werden. Sofern sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege deutlich verbessern, stünden laut einer neuen Studie aber mindestens 300. 000 Vollzeit-Pflegekräfte durch Rückkehr in den Beruf oder Aufstockung der Arbeitszeit zusätzlich zur Verfügung. Durch mehr Wertschätzung, bessere Bezahlung und familienfreundlichere Arbeitsbedingungen sieht Rascher gute Möglichkeiten, bisherige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder für den Beruf zu gewinnen und so dem drohenden Pflegenotstand entgegen zu wirken.
Eine weitere Chance, den Pflegeberuf wieder attraktiver zu machen, sieht Rascher in der Weiterentwicklung digitaler Technologien und im Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie Pflegerobotern: „Durchgängige Prozessketten haben das Potential, die Arbeit der Pflegekräfte zu erleichtern.“ So koste die Pflegedokumentation immer noch viel Zeit. Erleichterung bringe zum Beispiel ein Smartphone, mit dessen Hilfe die Pflegenden die entsprechenden Pflegeleistungen einfach und schnell dokumentieren können. „Solche Formen von Digitalisierung werden von Mitarbeitenden als Wertschätzung wahrgenommen, sagte der Referent. Rascher stellte den interessierten Zuhörern auch andere digitale Unterstützungsformen wie Telemedizin und Robotik vor und sprach sich für den Ausbau der Digitalisierung und der digitalen Verfügbarkeit von Daten zur Erhöhung der Patientensicherheit und Forschungszwecke aus. Dadurch könnten die Prozesse in Klinik und stationärer Altenpflege deutlich verbessert werden. Vor allem müssen die verschiedenen Bereiche des Gesundheitswesens seiner Meinung nach künftig noch wesentlich stärker zusammenarbeiten. Ein Fazit, dem alle Teilnehmenden zustimmen konnten.
Wer von den Teilnehmenden Interesse an den Vorträgen der Referenten hat, kann diese per Mail an Gerhard Tiemann anfordern.